Des Kaisers neue Ökonomie
Etablierte Wirtschaftswissenschaftler haben in der Vergangenheit Fehlprognosen abgegeben — bei der Einschätzung der Corona-Folgen drohen sie wieder zu versagen.
von Christian Kreiß
„Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht…“, heißt ein Sprichwort. Nun, um Lügen geht es hier weniger, eher um drastische Fehlurteile. Führt man sich vor Augen, wie Mainstream-Volkswirte und Wirtschafts-Journale die Lage 2007, unmittelbar vor der großen Finanzkrise, eingeschätzt haben, so hätte man eigentlich erwarten müssen, dass sie in der Zwischenzeit geschlossen abgedankt haben. Wenn heute also dieselben Akteure orakeln, die ökonomischen Folgeschäden der Lockdowns könnten bald vollständig überwunden werden, ahnt man schon: Es bahnt sich eine Katastrophe an. Unter bestimmten Umständen ist Optimismus kein Kavaliersdelikt — er blockiert eine realistische Sicht auf die Lage und wirksame Gegenmaßnahmen.
Im jüngsten Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom 21. Juni heißt es:
„Die deutsche Wirtschaft überwindet die pandemiebedingte Krise und steht am Beginn eines starken Aufschwungs. (…) Verglichen mit der Vorausschätzung vom Dezember 2020 wird für den gesamten Projektionszeitraum ein beträchtlich höheres BIP erwartet.“
Die deutsche Wirtschaft werde 2021 um knapp 4, 2022 um gut 5 Prozent wachsen. Dabei erscheinen „die Risiken für das Wirtschaftswachstum aus heutiger Sicht ausgeglichen“ (1).
Ähnlich optimistisch klingen die Prognosen der meisten anderen Mainstream-Volkswirte, beispielsweise vom Wall Street Journal befragte Ökonomen (2) oder der Weltbank (3). Der Tenor ist immer der gleiche: Die Weltökonomie wird das Vor-Lockdown-Niveau schon bald überschreiten, dann folgt weiteres starkes Wachstum wegen der zurückgestauten Nachfrage und alles ist wieder gut.
Bereits beim Heraufziehen der Finanzkrise 2007 haben praktisch alle Mainstream-Ökonomen versagt. Beispielsweise waren alle Ökonomie- und Finanzzeitschriften sowie die Europäische Zentralbank (EZB) voll des Lobes für die soliden Finanzen Spaniens, was im Nachhinein geradezu als grotesk anmutet.
Das Land wurde noch 2007 als Musterschüler des Euroraumes gelobt, an dessen Vorzeigeverhalten sich andere Länder ein Vorbild nehmen sollten. Dabei war bereits deutlich vor 2007 längst abzusehen, dass Spanien vor einer schweren Immobilien- und Finanzkrise stand (4). Warum konnten die Heerscharen der vorzüglich ausgebildeten Volkswirte und Analysten dies damals nicht sehen (5)? Und — was haben wir daraus gelernt?
Warum sind heute die Prognosen wieder ähnlich optimistisch wie 2006? Wiederholt sich das gleiche Blindheitsschema? Ich glaube ja.
Ich möchte mich im Folgenden auf die Analysen und Prognosen der renommierten Deutschen Bundesbank beziehen. Liest man die im jüngsten Monatsbericht erschienene gründliche, fundierte Analyse mit dem Titel „Perspektiven der deutschen Wirtschaft für die Jahre 2021 bis 2023“ vom 21. Juni, so kommt man zu dem Ergebnis: alles gut.
Selbstverständlich weist die Bundesbank auf etwaige Risiken hin: Es sei mit „Überraschungen zu rechnen“, es könnte zu mehr Insolvenzen als erwartet kommen oder „zu Verwerfungen an den Finanzmärkten mit negativen realwirtschaftlichen Rückkopplungen“. Aber alles in allem seien die Simulationsergebnisse des zugrunde liegenden makroökonomischen Modells doch eher „vorsichtig“ und man habe „keine Alternativszenarien mit unterschiedlichen Annahmen bezüglich der Pandemieentwicklung mehr erstellt“.
Kurz: „In der Gesamtschau erscheinen die Risiken aus heutiger Sicht für das Wirtschaftswachstum in etwa ausgeglichen“ (6).
Insbesondere für den Arbeitsmarkt brauche man sich keine Sorgen zu machen: „Die kräftige Arbeitsnachfrage lässt die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung deutlich über ihr Vorkrisenniveau steigen.“ Und auch Inflationssorgen seien trotz etwaiger leichter Aufwärtsrisiken unbegründet:
„Die Kernrate ohne Energie und Nahrungsmittel dürfte dagegen — zusätzlich bereinigt um den Mehrwertsteuereffekt — wie schon im Vorjahr bei nur etwas über 1 Prozent liegen. Bis 2023 könnte sie im Gefolge des Aufschwungs, der verbesserten Arbeitsmarktlage und wieder stärker anziehender Löhne auf 1,7 Prozent steigen. Da von Energie und Nahrungsmitteln dann kein überdurchschnittlicher Teuerungsdruck mehr ausgeht, ermäßigt sich die Gesamtrate auf gleichfalls 1,7 Prozent“ (7).
Kurzum: alles gut. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, weder um unser Erspartes noch um unsere Arbeitsplätze.
Am Rande sei bemerkt, dass die Bundesbank meines Erachtens auf Seite 24 eine etwas peinliche Fehldarstellung liefert, im Schaubild „Privater Konsum und Sparquote“. Dort wird der Rückgang der privaten Konsumausgaben im Frühjahr 2020 mit etwa 2 Prozentpunkten von circa 101 auf 99 angegeben, während auf Seite 16 im Schaubild „Wichtige Komponenten der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage“ die privaten Konsumausgaben zur selben Zeit von etwa 107 auf 93, also um circa 14 Prozentpunkte abstürzen (8). Ich vermute, die Darstellung auf Seite 16, der starke Rückgang, ist korrekt.
In dem sehr ausführlichen Artikel fehlen meines Erachtens mehrere zentrale Faktoren, weshalb es zu der irreführend optimistischen Darstellung kommt. Zum einen wird die Geldmengenentwicklung im Euroraum nicht erwähnt. Die Bilanzsumme der EZB hat sich in den vergangenen 14 Jahren etwa verachtfacht (9).
Anders ausgedrückt: die Zentralbankgeldmenge, also das von der EZB frisch gedruckte Bar- und Giralgeld ist auf etwa das Achtfache gestiegen. In den USA kam es gar zu einer Verzehnfachung (10) und in Großbritannien zu einer Verzwölffachung der Zentralbankgeldmenge (11). Das gab es noch nie auch nur ansatzweise in der Geschichte. Was wird mit all dem frisch gedruckten Geld in der Welt geschehen? Auf dieses Damoklesschwert, diese riesige aufgestaute Geldwelle, geht die Bundesbank nicht ein. Das scheint keine nennenswerte Rolle zu spielen.
Zweitens wird von der Bundesbank nicht — mit Ausnahme der deutschen Staatsverschuldung — erwähnt, dass sich die weltweiten Schulden von privaten Haushalten, Unternehmen, Regierungen und Finanzinstituten in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, gemessen an der Wirtschaftskraft, dramatisch erhöht haben, insbesondere durch die Lockdowns und besonders bedenklich in einigen Emerging-Markets-Ökonomien (12). Diese Schulden können unmöglich in voller Höhe zurückgezahlt werden. Schuldenausfälle sind — genau wie 2006 — vorprogrammiert. Warum wird dieses enorme Risiko von der Bundesbank ignoriert?
Drittens sind bestimmte Vermögenswerte, insbesondere die Aktienbörsen und viele Wohnimmobilien in Industrieländern heute so hoch bewertet wie noch nie oder zumindest wie sehr selten in der Geschichte. Im vergangenen Jahrzehnt hat sich eine bedenkliche Asset-Bubble aufgebaut, die leicht platzen kann (13).
Kurz: Die Bundesbank ignoriert vollkommen, dass insbesondere im Zuge der Lockdownmaßnahmen eine riesige Menge an Schecks auf die Zukunft gezogen wurde, die wir eines Tages werden einlösen müssen.
Die Bundesbank tut so, wie wenn man größere Teile einer Ökonomie, beispielsweise Kultur, Bildung, Fortbewegung, Gastronomie, Beherbergung, Einzelhandel, Friseure, Industriebetriebe und so weiter relativ problemlos für viele Monate zusperren, die Ausfälle über Staatszuwendungen zum großen Teil ausgleichen, das Ganze über frisch gedrucktes Notenbankgeld finanzieren kann und — das alles keine nennenswerten Auswirkungen auf die Ökonomie oder unser aller ökonomisches Wohlbefinden haben wird. Das klingt nicht gerade nach viel gesundem Menschenverstand, der in das makroökonomische Modell eingebaut ist.
Ich glaube, dass das Bundesbank-Ökonomie-Modell nicht nur realitätsfern, sondern geradezu schädlich ist. Denn es wiegt uns in eine Sicherheit und Behaglichkeit, die nicht vorhanden ist. Durch die Verharmlosung werden, ähnlich wie in der Zeit bis 2007, sinnvolle Gegenmaßnahmen gegen kommende Unbill verhindert. Insbesondere die massiven ökonomischen und sozialen Schäden, die durch die Lockdowns verursacht wurden, werden von der Bundesbank in geradezu frivoler Weise verharmlost beziehungsweise geleugnet.
Das kann verschiedene Ursachen haben. Zum einen muss die Bundesbank selbstverständlich politische Rücksichten nehmen. Falls sie beispielsweise hohe Inflationszahlen prognostizieren würde, könnte sie diese über Self-fulfilling Prophecies leicht auch herbeiführen: Wenn die Konsumenten tatsächlich glauben, dass hohe Inflation kommt, gehen sie schnell noch einkaufen und führen durch die steigenden Einkäufe gerade steigende Inflation herbei. Das Gleiche gilt, wenn die Bundesbank einen Crash oder Wirtschaftseinbruch prophezeien würde. Dann würde er vermutlich tatsächlich auch kommen, weil die Menschen danach handeln.
Zum anderen kann es aber auch einfach an falschen Modell-Prämissen liegen. Und das ist meiner Meinung nach der Fall. Die herkömmlichen Lehrbücher der Ökonomen ignorieren, dass Menschen keine Maschinen sind. Sie ignorieren Machtprozesse. In der Regel spielt steigende Ungleichverteilung keine nennenswerte Rolle. Auch Zinseszins und unbeschränkte Eigentumsanhäufung stellen keinerlei Problem dar, ebenso wenig wie Gewinnmaximierung der Unternehmen und Nutzenmaximierung der Konsumenten. Diese stark weltanschaulich geprägten neoliberalen, kapitalfreundlichen und egoismusfördernden Grundannahmen sind meiner Meinung nach jedoch nicht nur falsch, sondern geradezu schädlich (14). Sie führen darüber hinaus zu realitätsfernen Prognosen.
Ich fürchte, das rosige Bild, das die Deutsche Bundesbank — ebenso wie die rosigen Bilder der meisten anderen Mainstream-Ökonomen — uns zeichnet, wird sich ebenso wie 2007 bitter rächen.
Indem wir in falsche Sicherheit gewiegt werden, die Wirklichkeit nicht sehen wollen, also gewissermaßen Vogel-Strauß-Politik betreiben, verhindern solche Fehlprognosen sinnvolle Gegenmaßnahmen und verschlimmern dadurch eine kommende Bereinigung beziehungsweise führen sie erst herbei.
Wir sollten dringend unsere ökonomischen Grundannahmen überarbeiten und sie einer Realitäts- und Menschlichkeitsprüfung unterziehen. Sonst laufen sehr unschöne Machtprozesse ab und es gibt ein in vielerlei Hinsicht böses Erwachen. Die Zeit drängt.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Monatsbericht der Deutschen Bundesbank Juni 2021, 21. Juni 2021, Perspektiven der deutschen Wirtschaft für die Jahre 2021 bis 2023:
(2) https://www.wsj.com/articles/the-economic-recovery-is-here-rebound-jobs-stock-market-unemployment-biden-aid-package-11622642152?mod=hp_lead_pos5
(3) https://www.worldbank.org/en/publication/global-economic-prospects
(4) https://www.wiwi-online.de/Literatur/Fachartikel/382/Spanien+vor+Finanzkrise
(5) Stefan Bergheim: Die Erfolgsgeschichte geht weiter, herausgegeben von Deutsche Bank Research (DB Research), 11. September 2007.
(6) Monatsbericht der Deutschen Bundesbank Juni 2021.
(7) Ebenda.
(8) Ebenda.
(9) https://tradingeconomics.com/euro-area/central-bank-balance-sheet
(10) https://tradingeconomics.com/united-states/central-bank-balance-sheet
(11) https://tradingeconomics.com/united-kingdom/central-bank-balance-sheet
(12) https://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/512646/Kreiss-zeigt-auf-Dem-Finanzsystem-droht-massive-Gefahr-von-ueberraschender-Seite
(13) https://www.epochtimes.de/meinung/gastkommentar/kommt-ein-boersen-oder-wirtschaftsabsturz-die-inflation-oder-der-grosse-crash-a3526451.html
(14) https://menschengerechtewirtschaft.de/wp-content/uploads/2020/07/Buch-Mephisto-30.4.20-mit-Bild-1.pdf
Dieser Beitrag erschien auf Rubikon am 29.06.2021 unter einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International) lizenziert. Unter Einhaltung der Lizenzbedingungen dürfen Sie es verbreiten und vervielfältigen.