Zunehmend geht es in der EU nicht mehr um den Sieg der Ukraine gegen Russland, sondern um die sogenannte „Nachkriegsordnung“.
In der EU beginnt der Streit um eine „Nachkriegsordnung“
Spätestens mit dem Interview, dass die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel dem ungarischen Portal Partizán bei Ihrem Besuch in Budapest gab, verschärft sich in der EU der Streit um eine „Nachkriegsordnung“ nach dem Ende des Ukraine-Konflikts. Und dabei geht es keineswegs nur um Politik, sondern vor allem auch ums Geld: um das Geld, was die EU-Staaten für den Krieg gezahlt haben und noch zahlen wollen, und um das Geld, das sie an der Ukraine, dessen Waffenkäufen und dem „Wiederaufbau“ verdienen wollen.
Der russische TASS-Analyst Alexander Tsyganov argumentierte am 08. 10. 2025, dass in Europa die Suche nach den Schuldigen für das sich immer deutlicher abzeichnende Fiasko in der Ukraine beginne. Merkel wolle Schuld nun auf Polen und die Balten schieben.
Auf dem Portal des US-Thinktanks Responsible Statecraft des Quincy Institute for Responsible Statecraft kommentierte Eldar Mamedow am 17. 10. 2025 diese Entwicklung in der EU ähnlich. Nachfolgend eine Übersetzung.
Beginn der Übersetzung (Links und Hervorhebungen wie im Original):
In Europa beginnt das große Blame Game, nachdem die Ukraine-Strategie gescheitert ist
Jüngste Äußerungen von Angela Merkel haben den Auftakt zu einer europaweiten Suche nach Schuldigen markiert – inmitten einer scheiternden Strategie und bröckelnder Einigkeit.
von Eldar Mamedov, 17. Oktober 2025
Angela Merkel, die ewige Pragmatikerin, hat ihren Moment sorgfältig gewählt. In einem aktuellen Interview mit ungarischen Medien wies die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin auf die baltischen und polnischen Staats- und Regierungschefs als jene hin, die vor dem Krieg angeblich eine mögliche Annäherung der EU und Russlands „untergraben“ hätten.
Wie auch immer man ihr Vermächtnis beurteilen mag, Merkel besitzt ein untrügliches Gespür für politisches Timing. Ihre Aussage ist kein historischer Nachtrag, sondern der Paukenschlag zum Auftakt zu Europas bevorstehendem Blame Game angesichts der drohenden Niederlage in der Ukraine.
Ihre Worte fallen genau in dem Moment, in dem die Grundannahmen der europäischen Ukraine-Politik zusammenbrechen. Auf dem Schlachtfeld erringen die russischen Streitkräfte zähe, aber stetige Fortschritte. In den USA betont Donald Trump immer wieder, dies sei „Bidens Krieg“, nicht seiner, und er müsse beendet werden.
Während Trump offenbar nicht länger versucht, den ukrainischen Präsidenten Wladimir Selensky zum Eingehen auf einige der Bedingungen von Russlands Wladimir Putin zu bewegen, ist seine gegenwärtige Haltung – Waffenverkäufe an die Ukraine, finanziert durch Europa – für die Europäer unbefriedigend, da sie mit wachsenden wirtschaftlichen und fiskalischen Problemen kämpfen. Europa steht vor der Rechnung für einen Krieg, den es weder bezahlen noch gewinnen kann – einen Krieg zudem, dessen strategische Richtung von Washington und nicht von Brüssel vorgegeben wird.
Dieser transatlantische Wandel zeigt sich deutlich in der jüngsten Intensivierung der Kontakte zwischen Trump und Selensky. Ihr zentrales Thema ist die mögliche Lieferung von US-amerikanischen Tomahawk-Marschflugkörpern an die Ukraine. Dies ist ein Paradebeispiel für einen Trump-typischen Schachzug – Eskalation als Verhandlungsinstrument – doch Trump selbst scheint über die Lieferungen noch nicht entschieden zu haben, da er einräumt, dass dies eine erhebliche Eskalation darstellen würde. Europa bleibt derweil in der Rolle des Bittstellers, der Trump dazu bringen möchte, „Bidens Krieg“ zu seinem eigenen zu machen – ein deutliches Zeichen für das Scheitern der eigenen Politik.
Betrachten wir den Plan, eingefrorene russische Vermögenswerte zu beschlagnahmen, um der Ukraine zu helfen. Zwar ist das theoretisch ein riesiger Geldsegen – geschätzte 183 Milliarden Euro russischer Staatsfonds –, doch das Vorhaben stockt genau dort, wo es zählt: in Belgien, wo der Großteil dieser Mittel liegt. Brüssel warnt vor einem gefährlichen Präzedenzfall, der seine Glaubwürdigkeit als globales Finanzzentrum untergraben und russische Vergeltungsschläge gegen belgische Interessen weltweit provozieren könnte.
Während die EU-Kommission versucht, eine Formel zu finden, mit der die Nutzung der Gelder bei gleichzeitiger Wahrung belgischer Interessen ermöglicht werden kann, zeigt sich die belgische Regierung bislang nicht überzeugt. Hinter vorgehaltener Hand geben Diplomaten zu, dass die Probleme der Korruption in Kiew die rechtlichen Bedenken noch verstärken, bezeichnend dafür ist der jüngste Versuch von Selensky, die unabhängige Antikorruptionsbehörde abzuschaffen – ein kaum vertrauensbildender Schritt, wenn es um Hunderte Milliarden Euro geht.
Auch die anderen großen EU-Initiativen erweisen sich als hohle Gesten. Der Versuch, die EU-Mitgliedschaft der Ukraine zu beschleunigen, ist gescheitert. Ein von Ratspräsident António Costa beim informellen EU-Gipfel in Kopenhagen vor einigen Wochen propagiertes Vorhaben, künftig bei Erweiterungen Mehrheitsentscheidungen statt Einstimmigkeit anzuwenden, wurde von Ungarns Premier Viktor Orbán blockiert.
Orbán liefert das sichtbare „Nein“, doch in Wahrheit verschafft er nur politische Deckung für eine ganze Reihe von Mitgliedstaaten, die den ukrainischen Beitritt ablehnen, darunter auch die neue Regierung der Tschechischen Republik. Deren Wahlsieger Andrej Babiš erklärte, die Ukraine sei „nicht bereit für die EU, und zuerst muss der Krieg enden“.
Auch der von der Kommission vorgeschlagene „Drohnen-Wall“ als Reaktion auf wiederholte angebliche russische Verletzungen des EU-Luftraums liegt auf Eis, gefangen im innereuropäischen Kompetenz-Gerangel, das die Verteidigungsintegration stets behindert hat: südliche Mitgliedstaaten, die Russland nicht als existenzielle Bedrohung wahrnehmen, verübeln, dass der geplante „Wall“ zwar von allen finanziert, aber fast ausschließlich im Norden aufgebaut werden soll.
Diese politische Lähmung spiegelt sich in einer Führungskrise und dem Zerfall der politischen Mitte. Die Unzufriedenheit mit der EU-Außenbeauftragten Kaja Kallas wächst, selbst unter ihren bisherigen Unterstützern. Einst für ihre kompromisslose Haltung gegenüber Russland gelobt, gilt sie nun in Brüssel und anderen europäischen Hauptstädten als diplomatisch ungeschickt und dogmatisch kriegstreiberisch, wodurch sie die Beziehungen der EU zu wichtigen Akteuren wie den USA, Indien und China beschädige.
Gleichzeitig bröckeln die innenpolitischen Fundamente des pro-ukrainischen Konsenses.
Frankreich hat in zwei Jahren vier Premierminister verschlissen, Präsident Emmanuel Macron ist tief unpopulär und ohne Parlamentsmehrheit. Das wiedererstarkte politische Anti-Kriegslager reicht von der linken France Insoumise bis zum rechten Rassemblement National – beide lehnen weitere Unterstützung für die Ukraine ab, und ihre Popularität übertrifft die von Macrons Bewegung bei Weitem.
In Deutschland liegt die Ukraine-skeptische und teils offen pro-russische AfD laut Umfragen auf Rekordniveau – und teilweise gleichauf mit der CDU unter Kanzler Friedrich Merz. Die neue tschechische Regierung wurde als Plattform gewählt, die das „Blankoscheck-Prinzip“ gegenüber Kiew ausdrücklich infrage stellt.
Ja, trotz der allgegenwärtigen Sackgasse läuft die Maschinerie der EU-Politik weiter, mit einem 19. Sanktionspaket gegen Russland in Vorbereitung. Dies ist die Macht der bürokratischen Trägheit – noch verstärkt durch Russlands eigene Eskalationen, etwa die fortgesetzten Angriffe auf die Ukraine und Verletzungen des Luftraums der EU.
Doch Europa hat sich in eine Sackgasse manövriert, in der es auf ein Wunder hofft, um die Dynamik zu verändern. Die jüngste dieser Illusionen sind die US-amerikanischen Tomahawk-Raketen. Ob sie überhaupt geliefert werden, ist ungewiss – und noch ungewisser, ob sie die militärische Lage verändern würden. Sicher ist nur, wie der Kreml warnend erklärte, dass sie die Lage dramatisch zuspitzen und das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen der NATO und Russland – einschließlich eines möglichen Einsatzes von Atomwaffen – erhöhen würden.
Indem Europa es unterlässt, eigene diplomatische Lösungen zu verfolgen, während es gleichzeitig Washington um Eskalations-Optionen wie Tomahawks anbettelt, gibt es sein Schicksal aus der Hand. Es ist eine Politik, die sich an dem Slogan orientiert, man müsse die maximalistischen Ziele in der Ukraine „so lange wie nötig“ unterstützen und nicht an strategischer Weitsicht. Der Kontinent hat sich zu einem aktiven Teil einer Konfrontation gemacht, deren katastrophale Folgen er selbst zu tragen hätte. Wenn die Abrechnung kommt, wird das von Angela Merkel eröffnete Blame Game das einzige funktionierende Politikfeld Europas sein.
Eldar Mamedov ist ein in Brüssel ansässiger Experte für Außenpolitik und Non-Resident Fellow am Quincy Institute.
Ende der Übersetzung
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