Historiker Emmanuel Todd über Deutschlands Rolle im Ukraine-Krieg, die US-Macht und den kulturellen Niedergang des Westens
Emmanuel Todd über den Niedergang des Westens
In einem aufschlussreichen Interview mit der Berliner Zeitung gab der renommierte Historiker und Anthropologe Emmanuel Todd seine Perspektiven zum Krieg in der Ukraine und zur Rolle Deutschlands und der USA preis.
Todd, bekannt für seine scharfsinnigen Analysen historischer und geopolitischer Entwicklungen, verknüpft diese aktuellen Ereignisse mit den Themen seines neuen Buches „Der Fall des Westens“.
Aufgrund seiner Forschungsschwerpunkte nehmen demographische, familienstrukturelle, religiöse und Erziehungsfaktoren eine entscheidende Rolle in seinen Argumentationen zur Entwicklung einzelner Gesellschaften, aber auch zur Entwicklung des globalen politischen Systems ein.
Der Niedergang des Westens
Todd argumentiert, dass die westliche Welt einem endgültigen Niedergang entgegenblickt, welcher sich in einem kulturellen und religiösen Verfall manifestiert, begleitet von wirtschaftlichem Niedergang. Er sieht eine paradoxe Entwicklung:
Während der Westen weiterhin expansiv agiert, verkümmert er innerlich. Dies vergleicht er mit der Implosion der Sowjetunion besonders am Ende der 1980er Jahre. Russland stürzte dann zunächst in eine Krise, deren Nachwirkungen jedoch schließlich auch die USA und den Westen erfassten. Inzwischen habe sich Russland hingegen stabilisiert. (Das stellte am 13. 07. 2024 auch der Deutschlandfunk fest, als er schrieb: „Trotz Tausender Sanktionen gegen Russland geht der Krieg gegen die Ukraine weiter und auch die russische Wirtschaft wächst.“)
Deutschland und die Ukraine
Ein zentrales Thema des Interviews ist die Rolle Deutschlands im Ukraine-Konflikt. Todd betont die entscheidende Position Berlins:
„Es geht also darum, ob sich Deutschland von den Amerikanern löst und sich für den Frieden in der Ukraine einsetzt. Deutschland wird entscheiden, ob ein endloser Krieg weitergeht oder ob Frieden einkehrt. In diesem Sinne muss Deutschland seiner Verantwortung als Führungsmacht in Europa gerecht werden. Wir alle in Europa warten darauf, dass Berlin den Krieg beendet.“
Damit stellt sich Todd gegen die offizielle deutsche Politik. Denn anstelle von Friedensverhandlungen setze Deutschland nach den Worten seines Verteidigungsministers auf „Kriegstüchtigkeit“ bis 2029 „angesichts der Bedrohung durch Russland“. Und Bundeskanzler Scholz verfolgt die „Unterstützung“ des Regimes in der Ukraine als das Allheilmittel und preist dies sogar als „Verantwortung vor unserer eigenen Geschichte“.
Die Rolle der USA
Todd weist im Interview entschieden die Beschuldigung zurück, er würde russische Propaganda verbreiten, indem er behauptet, die Ukraine habe den Krieg bereits verloren:
„Wenn ich sage, die Ukraine hat den Krieg schon verloren, dann spreche ich nur aus, was das Pentagon oder der französische Generalstab denken.“
Für ihn steht fest, dass Russland für die Europäer keine Bedrohung darstellt. Vielmehr hätten die Amerikaner ein großes Interesse daran, den Krieg fortzuführen:
„Für die Amerikaner wäre das katastrophal. Würden die Russen ihre Ziele in der Ukraine erreichen, wäre Amerika in den Augen der Welt von einer ebenbürtigen Macht besiegt worden. Und das würde höchstwahrscheinlich zum Zusammenbruch des gesamten amerikanischen Weltsystems führen.“
Die geopolitischen Dynamiken vor dem Ukraine-Krieg
Todd beleuchtet die historische Annäherung zwischen Europa und Russland Anfang der 2000er Jahre und deren Einfluss auf die amerikanische Politik. Die Zusammenarbeit zwischen Schröder, Putin und Chirac gegen den Irakkrieg habe die USA alarmiert.
„Sie befürchteten, dass sich eine der größten Industriemächte der Welt, Deutschland, mit einer der größten Energiemächte der Welt, Russland, zusammentun und Amerika gewissermaßen aus Europa verdrängen würden. Deutschland musste also aus der Sicht Washingtons von Russland getrennt werden. Indem man die Russen zur Intervention in der Ukraine drängte, gelang dies schließlich. Die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines ist das Sahnehäubchen.“
Dieses Drängen der USA begann lange vor Februar 2022.
„Im Zusammenhang mit dem Maidan haben die Amerikaner dann direkt in der Ukraine interveniert. Die ukrainischen Nationalisten und ein Teil der amerikanischen politischen Klasse haben sich gegenseitig in ihrer Russophobie hochgeschaukelt und damit eine teilweise irrationale Dynamik in Gang gesetzt. Am Ende war eine Situation entstanden, in der die NATO de facto damit begonnen hatte, die ukrainische Armee bis an die russische Grenze aufzurüsten. Die Russen hatten angekündigt, dass sie eine in die NATO integrierte Ukraine nicht tolerieren könnten. Sie hatten gewarnt, dass sie in einem solchen Fall eingreifen würden.“
Bildung und Gesellschaft
In seinem Buch und auch im Interview kritisiert Todd die Bildungspolitik und die Auswirkungen des Neoliberalismus in den USA. Seit 1965 sinke das Bildungsniveau, und der Fokus liege mehr auf der Ausbildung von Juristen und Börsianern statt auf Ingenieuren. Russland hingegen bilde trotz seiner kleineren Bevölkerung mehr Ingenieure aus. Dies zeigt, wie der neoliberale Ansatz sowohl Wirtschaft als auch Gesellschaft schädige, was sich auch außenpolitisch in einer Präferenz für Krieg über Frieden äußere.
Einerseits führte die neoliberale Politik und Wirtschaft zu einer ungeheuren Anhäufung von Kapital in bestimmten Kreisen der herrschenden Elite. Andererseits würde dieses Kapital immer stärker für Rüstung und Krieg eingesetzt und damit die westliche Gesellschaft zerstört.
„Ab einem gewissen Punkt ist es völlig irrational, dass Menschen Unmengen von Geld anhäufen wollen, nur um des Geldes willen. Vor allem aber hat der Neoliberalismus in der Praxis Wirtschaft und Gesellschaft zerstört. Thatcher hat selbst gesagt, dass es so etwas wie Gesellschaft nicht gibt, das ist ein nihilistisches Bekenntnis.“
Zukunft der Weltmächte
Abschließend gibt Todd eine Einschätzung zur zukünftigen geopolitischen Lage. Er glaubt nicht, dass China die USA als Weltmacht ablösen wird, da China erhebliche demografische Probleme hat. Stattdessen prognostiziert er eine multipolare Weltordnung, in der Kriege keine zentrale Rolle mehr spielen werden.
Fazit
Emmanuel Todd bietet eine scharfsinnige und oft kontroverse Analyse der aktuellen geopolitischen Entwicklungen. Seine Aussagen zur Rolle Deutschlands, den USA und Russlands sowie seine Prognosen über die Zukunft des Westens regen zum Nachdenken und zur Diskussion an. Todds neues Buch „Der Fall des Westens“ ist ein weiterer Beitrag zu diesen wichtigen Debatten und bietet tiefere Einblicke in die Zusammenhänge, die er im Interview darlegt.