Hunger – droht eine weltweite Katastrophe nach Beendigung des Schwarzmeer-Getreidedeals durch Russland? Einige Überlegungen.
Hunger in dem ärmsten Ländern ohne ukrainisches Getreide?
Russland hat nach dreimaliger Verlängerung und mehreren Ankündigungen die einjährige Schwarzmeer-Getreideinitiative nicht verlängert. Zudem wurde gab das russische Verteidigungsministerium am 19.07.2023 offiziell bekannt, dass es die ukrainischen Häfen für die Getreideausfuhr blockiert.
John Helmer resümierte die Vereinbarung zu den Getreidelieferungen aus der Ukraine:
„Praktisch ist sie schon seit Wochen dem Untergang geweiht. Die ukrainischen Angriffe auf die Ammoniak-Pipeline Togliatti-Odessa (8. Juni) und das Taman-Schiffsterminal (2. Juni); die ukrainischen Bemühungen, die Getreidetransporter im von den Vereinten Nationen überwachten Seekorridor zur Verschleierung von Waffenimporten zu nutzen, und der Einsatz von Marinedrohnen, die auf die Krim-Brücke, Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte und andere Ziele an Land gerichtet waren; die Weigerung der NATO-Staaten, ihre Sanktionen gegen den russischen Handel aufzuheben, um die Bedingungen des ursprünglichen UN-Abkommens umzusetzen – während sie gleichzeitig die ukrainischen Exporte in die Europäische Union (EU) zu Dumpingpreisen stoppen – das ist das Ende des Abkommens.
Die Tatsache, dass die Ukraine und die EU-Staaten mehr davon profitiert haben als Russland, hat Russland bisher nicht daran gehindert, die Bedingungen zu erneuern, aber es war den EU-Staaten zu peinlich, dies zuzugeben, und ihren Medien zu peinlich, darüber zu berichten.“
Darüber hinaus darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass das Abkommen mit einem Memorandum zugunsten Russlands verbunden war:
- Lockerung der Beschränkungen für russische Getreide- und Düngemittelausfuhren,
- Wiederanschluss der Rosselkhozbank [Russische Landwirtschaftsbank] an das SWIFT-System,
- Wiederaufnahme von Ersatzteillieferungen an Russland für Landmaschinen,
- Wiederaufnahme der Logistik- und Transportversicherung,
- Ammoniaklieferungen über die Ammoniak-Pipeline Togliatti-Odessa.
Keine dieser Vereinbarungen wurde eingehalten. Dmitri Poljanski, Vize-Botschafter Russlands bei der UN, erklärte dazu vor dem UN-Sicherheitsrat:
„Sie hatten nie die Absicht, das Russland-UN-Memorandum umzusetzen, wei es auch schon bei den Minsker Vereinbarungen der Fall war…
Wir weisen darauf hin, dass das Kiewer Regime im vergangenen Jahr unter dem Schutz des Abkommens bedeutende militärisch-industrielle Einrichtungen und Treibstofflager in seinen Schwarzmeerhäfen aufgebaut hat. Mit Abschluss des Abkommens wurden in diesem Gebiet sowohl ukrainische Truppen als auch ausländische Söldner stationiert.“
Haltet den Dieb!
So klingen viele Erklärungen westlicher Politiker und Medien.
Der ukrainische Präsident Selenskij will die Getreideausfuhr auf jeden Fall fortsetzen:
„Die Schwarzmeer-Getreide-Initiative kann und sollte weiterarbeiten – wenn schon ohne Russland, dann ohne Russland. Das Getreideexportabkommen – dieses Abkommen mit der Türkei und den Vereinten Nationen – bleibt in Kraft… Ich habe dem türkischen Präsidenten und dem UN-Generalsekretär offizielle Briefe mit dem Vrschlag geschickt, die Arbeit der Schwarzmeer-Getreide-Initiative oder ihrer Analogie in einem trilateralen Format zu verlängern – auf die Weise, die am zuverlässigsten ist. Die Ukraine, die UNO und die Türkei können gemeinsam den Betrieb des Lebensmittelkorridors und die Inspektion der Schiffe sicherstellen.“
UN-Generalsekretär Antonio Guterres erklärte: der Krieg Russlands in der Ukraine sei ein Krieg gegen die Nahrungsmittelversorgung, die niedrigen Weizenpreise und das Überleben vor dem weltweiten Hunger.
„Die heutige Entscheidung der Russischen Föderation ist ein Schlag für Menschen in Not überall.“
Der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates der USA, John Kirby, erklärte bei einem Briefing im Weißen Haus:
„Russlands Entscheidung, die Blockade der ukrainischen Häfen wieder aufzunehmen und zu verhindern, dass dieses Getreide auf die Märkte gelangt, wird den Menschen auf der ganzen Welt schaden“.
Wie wahr sind solche Behauptungen?
Blomberg berichtet demgegenüber:
„Appell der Ukraine, den Getreidetransport aufrechtzuerhalten, kollidiert mit der Realität der Verlader“
Darin wird Roman Slaston, Leiter des Ukrainian Agribusiness Clubs, indirekt zitiert:
„Die Ukraine kann ihre Ernten immer noch auf dem Landweg und über Flüsse verschicken, aber diese Wege sind teurer und schmälern das Einkommen der Landwirte. Auch die Verschiffung über die Europäische Union führt zu Spannungen mit den Nachbarländern.
Die Kosten für den Export auf dem Seeweg werden wahrscheinlich steigen, zum Teil aufgrund höherer Versicherungs- und Frachtraten, sagte Roman Slaston, Leiter des Ukrainian Agribusiness Club. Er blieb optimistisch, dass die Lieferungen stattfinden könnten, sagte aber, dass es einige Wochen dauern könnte, um sich vorzubereiten.“
Infolge der Ankündigung des russischen Verteidigungsministeriums dürfte auch kaum ein Reeder oder eine Versicherung den Getreidexport über das Schwarze Meer ohne russische Unterstützung riskieren.
„‚Kein vernünftiger Reeder wird dort unversichert anlaufen‘, sagte Vasilis Mouyis, Mitgeschäftsführer der in Griechenland ansässigen Doric Shipbrokers SA, die zuvor Schiffe durch die Schiffspassage geschickt hatte. Ohne den Schutz des sicheren Korridors ‚ist der Ukraine-Handel tot'“.
Wer hat vom Getreidedeal profitiert?
Nach Angaben des Welternährungsprogramms (WFP) gingen nur 2,2 % der gesamten ukrainischen Getreideexporte an die bedürftigsten Länder.
Die größten Nutznießer waren dagegen
- China (8 Mill. Tonnen),
- Spanien (6 Mill. Tonnen),
- Türkei (3,2 Mill. Tonnen),
- Italien (2,1 Mill. Tonnen),
- Niederlande (2 Mill. Tonnen).
Rund 80 % der Lieferungen aus der Ukraine gingen in die EU-Staaten, nach Israel, Japan und in andere Länder mit hohem Einkommen sowie ohne Hungersnot.
In die ärmsten Länder – darunter Äthiopien, Jemen Afghanistan, Sudan, Kenia und Somalia – gelangten nur 725.000 Tonnen.
Angesichts dieser Verteilung erscheinen Warnungen vor verstärktem weltweiten Hunger als unglaubwürdig.
Es sei auch daran erinnert, dass Russland beispielsweise nach der „vorläufigen“ Außerkraftsetzung des Getreideabkommens nach den Angriffen auf die Schwarzmeerflotte im Herbst 2022 ankündigte, 500.000 Tonnen Getreide kostenlos an ärmere Länder zu liefern, um die gesamte Menge zu ersetzen, die die Ukraine eigentlich hätte exportieren können.
Damals kommentierte Pepe Escobar:
„Der Getreidehandel schien eine Art Win-Win-Situation zu sein. Kiew würde die Schwarzmeerhäfen nicht mehr verseuchen, nachdem sie entmint worden waren. Die Türkei wurde zu einer Getreidetransportdrehscheibe für die ärmsten Länder (das ist nicht der Fall: der Hauptnutznießer war die EU). Und die Sanktionen gegen Russland wurden für die Ausfuhr von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Düngemitteln gelockert.“
Offensichtlich mehr als die Menge verfügbaren Getreides wirken sich die Entwicklungen an den Terminbörsen und die Lieferketten auf die Getreidepreise aus. Der Welthandel wird von fünf Firmen dominiert. Diese werden dann für Länder mit hohem Nahrungsmittelbedarf schier unerschwinglich, was Millionen Menschen in Not bringt. Schon vor 10 Jahren hieß es – wenn auch relativierend – in der WELT vom 12.06.2013: „Getreide-Zocker hinterlassen Spuren der Unmoral„:
Die Nichtregierungsorganisationen Foodwatch und Oxfam kritisieren immer wieder, Banken und Versicherungen seien mitverantwortlich für den Hunger in der Welt.“
Interessant ist aus dieser Perspektive ein Blick auf die Entwicklung der Getreidepreise beispielsweise an der Chikagoer Börse sowie die Entwicklung der weltweit von Hunger betroffenen Menschen, die bereits seit 2019 und in den „Corona-Jahren“, also unabhängig vom Schwarzmeer-Getreidedeal, deutlich anstieg. Im Vergleich zu den Vorjahren stellt die Food and Agriculture Organisation of the United Nations (FAO) aktuell fest: „FAO-Lebensmittelpreisindex weiter rückläufig„.